Die nordamerikanische Eishockey-Fangemeinschaft lebt in einer Bubble - und zwar in der eigenen. Was in Europa eishockeytechnisch passiert, wird nur als Randnotiz wahrgenommen. Und selbst in Montréal, wo das Eishockeyinteresse und -verständnis aufgrund der etwas grösseren kulturellen Nähe zu Europa höher ist als anderswo und man sich auch für europäisches Spitzenhockey etwas intensiver interessiert als in weiten Teilen Nordamerikas, wurde diese Tatsache deutlich spürbar anhand der Reaktionen nach der Wahl von David Reinbacher als Nummer-Fünf-Draftpick der Canadiens.
Glaubwürdige Fachleute als wichtige Informationsquelle
Bei einem Teil der Fangemeinschaft gingen sogar die Sicherungen durch und die Wut auf den Club über den vermeintlich unverständlichen, „verschwendeten“ und „riskanten“ Draftpick richtete sich schliesslich sogar gegen den Spieler selbst. Dies veranlasste die Canadiens de Montréal dann dazu, enorme Anstrengungen mit einer Imagekampagne zur Person David Reinbacher zu lancieren - mit Erfolg. Auch mussten sich einige Expertinnen und Experten, die nachweislich eine hohe Glaubwürdigkeit geniessen und in Europa gearbeitet haben, zwischenschalten. So wie beispielsweise Guy Boucher, Ex-Cheftrainer des SC Bern, der in einer populären Sendung auf dem Sportsender RDS (Montréal) sowie auch auf TSN sagte: „Ich habe in der Schweiz gearbeitet und kann das einschätzen. Wenn ich nur eine kurze Bewertung mit den mir verfügbaren Informationen und Videos mache, muss ich sagen: Wenn Reinbacher sich so weiterentwickelt wie im letzten Jahr, wird das ein Top-Eishockeyprofi werden. Denn die Schweizer Liga ist stärker als die AHL. Die Jungs sind gestandene Profis und schneller. Es spielen auch Profis mit NHL-Kaliber dort und sie haben europäische Spitzenspieler in der Liga. Es tut mir leid, aber David Reinbacher hat sich dort durchgesetzt und ist somit sicher keine schlechte Wahl!“
Unkenntnis über den europäischen Eishockeymarkt
Dieser Kommentar öffnete vielen die Augen und relativierte die Wahrnehmung einiger Fans und die Wahl der „Habs“ für diesen Spieler. Ganz anders wären die Reaktionen gewesen, hätte man einen Schweden, Finnen oder Russen gedraftet. Die Unkenntnis des europäischen Marktes zeigt sich auch anhand der Einstufungen bezüglich der Stärke der Ligen: Die Liiga, SHL und KHL gelten als stark und werden mit der nordamerikanischen AHL gleichgesetzt. Wenn ein junger Spieler in Schweden oder Finnland in der höchsten Liga reüssiert, wird er als reif für die NHL angesehen – sofern er in den ersten Runden gedraftet wird. Beispiele hierfür sind Kevin Fiala, Moritz Seider und einige mehr.
Die National League in der Schweiz, die DEL und die tschechische Extraliga geniessen weniger Anerkennung. Dies ist besonders bezüglich der National League eine komplett falsche Wahrnehmung. Die National League gehört qualitativ definitiv zu den Top-4-Ligen Europas. Dass David Reinbacher in der NL spielt und zudem noch „nur ein Österreicher“ ist, lässt viele zweifeln. Reinbacher wurde in einigen Kommentaren (auch von vermeintlichen „Experten“) sogar auf seine Nationalität reduziert. Ein Matvej Mitchkov beispielsweise – dessen Fall stark diskutiert wurde im Vorfeld des Draft 2023 - hätte, trotz aller Bedenken bezüglich seiner Charaktereigenschaften und der Staatsangehörigkeit und der dazu damit einher gehenden Ungewissheiten, viel mehr Kredit erhalten.
Regionale und nationale Themen dominieren
Der ungenügende Wissensstand eines grossen Teils der Eishockeyfans in Nordamerika ist jedoch auch verständlich und nachvollziehbar angesichts der sportlichen Themenschwerpunkte in den diversen Sportmärkten. Die Medien berichten vornehmlich über regionale oder – falls Ausserordentliches passiert – auch über nationale Sportthemen. Eine Ausnahme bilden jeweils grosse Sportturniere oder Olympische Spiele. Ausserdem: Die AHL und andere Minor Leagues sowie die Juniorenligen werden bei der nordamerikanischen Eishockeygemeinschaft detailliert kommentiert und publizistisch abgedeckt. Ein Europäer geniesst also auch dann eher mehr Kredit, wenn er sich bereits in Nordamerika auf der kleinen Eisfläche als Junior einen Namen machen konnte. Oder an einem WM-Turnier bereits brillieren konnte. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel.