Vor einigen Jahren gab es in Tampa Bay bei den Bolts eine Debatte, die innerhalb der Organisation fast zu einer Glaubensfrage wurde: Soll der grossgewachsene, starke aber verletzungsanfällige Ben Bishop dauerhaft die Nummer Eins bleiben oder will man seinen Backup, den talentierten Andrei Vasilevskiy schnell zum Stammkeeper befördern. 2015 verletzte sich Bishop erneut und sein designierter Nachfolger musste in Spiel 2 des Playoff-Finals gegen Chicago seinen Mann stehen. Es war der Zeitpunkt, als man die Zeichen der Zeit erkannte und alle Fachleute wussten, dass die Wachablösung bald kommen würde. Im Februar 2017 war es dann soweit: Bishop wurde zu den Kings nach L.A. getradet.
Die vielen Playoff-Erfahrungen, einige bereits in der frühen Phase seiner NHL-Karriere, haben Andrei Vasilevskiy geprägt. Darunter fällt auch jene von 2019, als man hoch favorisiert gegen die Columbus Blue Jackets in Runde Eins der Playoffs mit einem Sweep in die Ferien geschickt wurde. Dass sowohl GM Julien Brisebois als auch Cheftrainer Jon Cooper die richtigen Schlüsse zogen, ist bekannt. Aber auch Vasilevskiy wusste, was zu tun war. Der Russe, der seine Profikarriere in der KHL bei Salawat Julajew Ufa begann, arbeitete noch stärker im Mentalbereich und analysierte genau, was passiert war.
Andrei Vasilevskiy ist in der Regel ein ruhiger Typ, der nicht mit Angeberei hausiert. Das ist seiner Spielweise förderlich, denn er ist ein Beispiel an Konstanz und bleibt auf den Moment fokussiert. Interessant ist auch dieses Detail: Der 27-jährige leidet unter einer Form des Thoracic-outlet-Syndroms, das eine zeitweise oder ständige Kompression eines Gefässnervenbündels im oberen Thorax verursacht.
Mit 94 Kilogramm Kampfgewicht und einer imposanten Statur (191 Zentimeter) ist er physisch sehr belastbar und athletisch. Bei Traffic vor dem Slot kann er seine Körpergrösse nutzen und den Überblick und auch die Ruhe bewahren. Sein Stellungsspiel ist herausragend, was bei seiner Grösse ein zusätzliches Plus bedeutet. Was ihn auch auszeichnet: Seine Grösse hindert ihn kaum bezüglich Athletik und Reaktionsfähigkeit. Er lässt wenige „5 Hole“-Tore zu. Und wenn man noch seine mentale Ruhe berücksichtigt, darf man von einem kompletten Gesamtpaket eines modernen Keepers sprechen. Er schaffte es sogar, einen Carey Price in den ersten drei Finalpartien mit dessen eigenen Waffen zu schlagen.
Sein Meisterstück legte er diese Playoffs ab, indem er in den Entscheidungsspielen jeweils ohne Gegentor blieb: Gegen Montreal wie auch zuvor gegen die Islanders sicherte er den knappen 1:0-Vorsprung. Vasilevskiy beendete somit fünf Playoff-Serien in Folge mit einem Shutout. Diese unglaubliche Bilanz startete bereits im Stanley Cup-Final 2020 (2:0 gegen die Dallas Stars in Spiel 6) und setzte sich in den Stanley Cup Playoffs 2021 fort (4:0 gegen die Florida Panthers in Spiel 6 der First Round, 2:0 gegen die Carolina Hurricanes in Spiel 5 der Second Round, 1:0 gegen die New York Islanders in Spiel 7 des Halbfinals, 1:0 gegen die Montreal Canadiens in Spiel 5 im Final).
Joël Ch. Wuethrich publiziert wöchentlich Hintergrundberichte über die NHL in der führenden Deutschen Fachpublikation Eishockey News und hat ein ausgezeichnetes Beziehungsnetz in Nordamerika. Seit 1992 ist er Chefredaktor diverser namhafter Publikationen, unter anderem auch war er beim Slapshot sowie beim Top Hockey Chefredakteur und war zudem lange Jahre für den Spengler Cup strategisch in Marketing und PR sowie als Chefredaktor tätig. Joël Ch. Wuethrich leitet seit 1992 hauptberuflich eine crossmedial aufgestellte PR-Agentur und eine Player's Management Agentur (Sportagon), ist Crossmedia-Stratege und HF-Dozent mit Lehrauftrag für Kommunikation und Marketing. Er analysiert seit 30 Jahren als Autor/Chefredakteur in der Schweiz, Deutschland sowie in Kanada die NHL und beobachtet das Eishockeygeschehen weltweit intensiv. Der Familienvater (zwei Kinder) arbeitet in der Schweiz und in Montréal, wo ein grosser Teil seiner Verwandtschaft wohnt.
