NHL Observer

Das viel beschworene Momentum und die Swing Moments – auch heuer wieder zählte man in den NHL-Playoffs einige entscheidende Spielsituationen oder -phasen, in welchen eine ganze Serie kippte. In den Conference Finals 2022 war dies besonders eindeutig.

Den Fans in Edmonton stockte der Atem: In Spiel 3 der Oilers-Avalanche-Serie traf Evan Bouchard in den Schlusssekunden eines Überzahlspiels den Pfosten. Im Gegenzug lief der soeben von der Strafbank gestartete J.T. Compher dem müden Evan Bouchard davon, um im Eins-zu-Eins den zuvor starken aber in dieser Situation unglücklichen Mike Smith mit einem krummen Ding zu bezwingen. Das war sieben Minuten vor Spielende. Innerhalb einiger Sekunden wurde Evan Bouchard statt zum Helden zusammen mit seinem Keeper zur tragischen Figur des Spiels. Das war der Swing Moment in dieser Halbfinalserie. Der etwas umstrittene Overtime-Treffer von Artturi Lehkonen (hoher Stock vor dem Torschuss?) war dann eine Dreingabe und bezeichnend für das Wettkampfglück der Avs.

Noch verrückter war das Momentum für die Tampa Bay Lightning in der Serie gegen die Rangers: In Spiel 3 erzielten die Bolts - bereits mit zwei Niederlagen in die Serie gestartet - 42 Sekunden vor Schluss den Führungstreffer und entgingen somit einer nervenaufreibenden Overtime in diesem wegweisenden Spiel 3. Das Glück blieb ihnen hold, denn in einem weiteren wegweisenden Spiel, der fünften Partie, gelang ebenfalls kurz vor Schluss der Führungstreffer.

Sportwissenschaftliche Studien zeigen, wem das Wettkampfglück lacht...

Solche Swing Moments gelingen verhältnismässig oft den Mannschaften mit Playoff-Erfahrung. Das ist statistisch erwiesen und in verschiedenen Studien und Untersuchungen der Sportwissenschaft beschrieben. In vielen dieser Studien wird aufgezeigt, warum so genannte „elite sportswomen und sportsmen“ das Wettkampfglück anziehen. Dies gelte auch für Mannschaften, die „gelernt hätten zu gewinnen“ (researchonline.uk und thecoachessite.com). Das sogenannte Momentum und wie man dieses auf seine zwingt wird auch im „Oxford Dictionary of Sports Science“ beschrieben.

Kein Zweifel: Colorado und Tampa haben aufgrund ihrer Playoff-Kaderqualität den Einzug in den Stanley-Cup-Final geschafft. Aber ohne das vielzitierte Momentum und dem damit einhergehenden Swing Moment zum richtigen Zeitpunkt hätten sowohl die Edmonton Oilers wie auch die New York Rangers sicherlich eine Chance gehabt, den beiden Favoriten noch mehr Paroli zu bieten.

Die NHL-Historie ist voll von solchen Tourning Points oder Swing Moment: Nehmen wir zuerst ein Beispiel aus dem Jahre 2019 und die erste Partie der hochfavorisierten Tampa Bay Lightning gegen die Columbus Blue Jackets: Schnell führte Tampa nach dem ersten Drittel mit 3:0 und alle erwarteten einen „walk in the park“ für die Dominatoren der regulären Saison. Bis dann im letzten Drittel der Wind mit einer schnellen Tor-Triplette für Columbus drehte, nachdem sich die Blue Jackets mit einem Tor im Mitteldrittel wieder Mumm verschafft hatten. Das war der Startschuss zu einem noch nie in dieser Form da gewesenen Playoff-Sweep eines Qualifikationssiegers.

Einer der wohl spektakulärsten Momentum-Wechsel der letzten Jahre ereignete sich in Spiel 7 der Serie San José Sharks gegen die Las Vegas Golden Knights (2019), als in der Endphase Vegas' Cody Eakin Joe Pavelski crosscheckte und den Sharks ein umstrittenes Fünf-Minuten-Überzahlspiel bescherte. Was dann passierte ist bereits legendär: San José erzielte vier Tore in einer Powerplay-Sequenz und glich so aus! In der Overtime machte man dann alles klar. Der Weg in die zweite Runde war frei – jetzt steht man in den Conference Finals.

Unvergessene Swing Moments

Momentum-Wechsel und Swing Moments haben in der NHL-Geschichte in hoher Regelmässigkeit für Aufsehen gesorgt. Unvergessen sind in der Neuzeit der NHL unter anderem folgende Ereignisse:

1979 sorgte der legendäre Don Cherry als Coach der Boston Bruins für den Swing Moment im Spiel 7 des Halbfinales zu Gunsten der Montréal Canadiens. Ein Wechselfehler (die Sequenz ist heute noch berühmt und im Trailer der TV-Sendung „Coach’s Corner“, als er die gegnerischen Fans aufstachelte und gegen die Schiedsrichterentscheidung protestierte) kurz vor Spielende sorgte für ein Überzahlspiel der Habs und den Ausgleich (Guy Lafleur). In der Overtime siegte Montréal (Yvon Lambert) und zog in die Finalserie ein, welche sie dann auch gewannen.

Im Stanley-Cup-Final 1993 lagen die Montréal Canadiens gegen die Startruppe der L.A. Kings um Wayne Gretzky in Spiel 3 1:45 Minuten vor Schluss zurück. Eine Niederlage hätte einen Rückstand von 0:2 in der Serie vor dem Trip nach Kalifornien zu den Spielen 3 und 4 bedeutet. Dann griff Trainer Jacques Demers in die Trickkiste: Er und seine Assistenten entdeckten eine auffällige starke Biegung an der Schaufel von Kings-Superstar Marty McSorley, die eventuell nicht mehr den Regeln entsprach. Nach der Prüfung kam die Bestätigung und folglich eine Zweiminutenstrafe - und prompt fiel der Ausgleich und in der Overtime der Siegtreffer für die Habs. Dies war der Swing Moment in der Serie – Montréal holte sich seinen 23. Cuptitel.

Unvergessen ebenfalls, was ein Jahr später im Conference Final der New York Rangers gegen die aufstrebenden New Jersey Devils geschah: Die Devils lagen in der Serie 3:2 vorne und in Spiel 6 im letzten Drittel in Führung. Dann sorgte Mark Messier mit einer Triplette (zwei Tore in den letzten zehn Minuten) für den Swing Moment. Im Spiel 7 war die Dramatik ebenfalls hoch: In der zweiten Overtime konnte man sich für den Final gegen Vancouver qualifizieren. Der Rest ist Geschichte.

In der jüngeren NHL-Historie erinnert man sich noch gut an das nicht gegebene Tor von Martin Gelinas kurz vor Schluss im Finalspiel 6 der Calgary Flames gegen Tampa Bay. Es hätte den Stanley-Cup-Triumph für die Flames bedeutet. In der Overtime skorten danach die Bolts um Lecavalier, St. Louis und Co. und retteten sich ins Spiel 7. Vor heimischem Publikum holte man den Pokal.

Auch erwähnenswert: Der Quali-Sieger 2006 – die Carolina Hurricanes - lagen in den Playoffs damals gegen Montréal in Runde Eins in der Serie mit 0:2 zurück, als Eric Staal mit seinem Overtime-Tor im Spiel 3 einen 0:3-Rückstand verhinderte. Ein gewisser Cam Ward wurde als Backup-Keeper danach zum Stanley-Cup-Held. Ohne diesen Swing Moment wären die Canes wohl in Runde Eins schon ausgeschieden.

Joël Ch. Wuethrich publiziert wöchentlich Hintergrundberichte über die NHL in der führenden Deutschen Fachpublikation Eishockey News und hat ein ausgezeichnetes Beziehungsnetz in Nordamerika. Seit 1992 ist er Chefredaktor diverser namhafter Publikationen, unter anderem auch war er beim Slapshot sowie beim Top Hockey Chefredakteur und war zudem lange Jahre für den Spengler Cup strategisch in Marketing und PR sowie als Chefredaktor tätig. Joël Ch. Wuethrich leitet seit 1992 hauptberuflich eine crossmedial aufgestellte PR-Agentur und eine Player's Management Agentur (Sportagon), ist Crossmedia-Stratege und HF-Dozent mit Lehrauftrag für Kommunikation und Marketing. Er analysiert seit 30 Jahren als Autor/Chefredakteur in der Schweiz, Deutschland sowie in Kanada die NHL und beobachtet das Eishockeygeschehen weltweit intensiv. Der Familienvater (zwei Kinder) arbeitet in der Schweiz und in Montréal, wo ein grosser Teil seiner Verwandtschaft wohnt.

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Was passiert hinter den Kulissen der NHL und was steckt hinter den Geschichten, die uns bewegen? NHL Insider Joël Ch. Wuethrich öffnet für SHN sein NHL Netzwerk.