NHL Observer

In der Geschäftswelt spricht man vom Phoenix-Prinzip als eine Entwicklung eines authentischen Führungsstils, indem das Handeln mit einem inneren Kontrollsystem in Einklang gebracht wird. Man will also einem Unternehmen während eines Strukturwandels eine neue, authentische Philosophie verpassen. Genau das passiert aktuell bei mehr NHL-Clubs denn je. Selten zuvor passierte so viel hinter den Kulissen der Chefetagen. Die Saison 2022/23 steht klar im Zeichen des Phoenix-Prinzips.

Das Durchziehen eines Konzepts für einen Neuaufbau in einem NHL-Club – sei es auf Stufe Management oder in der Kaderplanung – erfordert viel Geduld und gilt als Königsdisziplin bei den General Managern. Und in einigen Zielgruppenmärkten ist dieser Plan der Fan-Community nicht einfach zu verkaufen. Wie das Beispiel der Canadiens de Montréal 2022 zeigt.

Manche NHL-Clubs haben sich in den letzten Jahren gewissermassen freiwillig einer strategischen Neuausrichtung und Kaderplanung unterzogen. Andere wiederum mussten aufgrund anstehender Vertragsverhandlungen bei ihren Schlüsselspielern oder wegen eines Aderlasses an Leistungsträgern und Teamleadern ihre kurz- und mittelfristige Strategie bezüglich Teamsetting anpassen. Dabei haben einige aus der vermeintlichen Not eine Tugend gemacht. Aktuell haben die Montréal Canadiens, die Detroit Red Wings, die Ottawa Senators oder auch die Chicago Blackhawks einen (radikalen) Neuaufbau des Mannschaftskerns in Angriff genommen. Die Arizona Coyotes als Sonderfall sind indes sowohl strukturell wie auch sportlich einem ständigen Rebuilding unterworfen, bei welchem es den Anschein macht, dass daraus niemals etwas Nachhaltiges resultiert. Viele andere unterziehen sich ebenfalls einem verhältnismässig zu den Vorgenannten leichteren Rebuilding.

Jeff Gorton: „Oups, he did it again“

Besonders in Montréal ist die Ausgangslage spannend und auch heikel. Ein Rückblick: Die Canadiens hatten 2021/22 die wohl im sportlichen Sinne ungewöhnlichste Saison seit 1995, als im Zuge der Polemik um Patrick Roy und dessen Abschied im Streit mitten in der Saison ein House Cleaning bei den Habs folgte. Viele in Montréal sprachen von einem „annus horribilis“ (ein „schreckliches Jahr“). Einige andere Parallelen zu damals: Das Rückgrat des Teams – der Goalie und der Captain (1995 war das Mike Keane) – standen der Mannschaft nicht zur Verfügung, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Montréal hatte zwei Jahre zuvor 1993 noch den Stanley Cup gewonnen, während die Habs 2021 bekanntlich bis in den Stanley-Cup-Final vordrangen. So wirkte also ebenfalls noch der Eindruck von erfolgreichen Playoffs. 1995/96 aber qualifizierte man sich relativ souverän für die Playoffs und es gab keine Verletzungswelle, keine Time Outs wichtiger Leistungsträger wegen mentalen Problemen und auch keine Covid-Ausfälle. Wie also sollten die Habs mit der aktuellen Situation umgehen? Ein (fast) kompletter Wiederaufbau nach dem Muster der New York Rangers 2018 und 2019 - übrigens damals initiiert vom aktuellen neuen starken Mann bei der sportlichen Führung der Habs, Jeff Gorton - ist in Montréal im historischen Kernland des Eishockeysports schwierig zu verkaufen. Aber nicht unmöglich, wenn tatsächlich endlich mal wieder ein Top-Draftpick gelingt, der auch zu einem NHL-Superstar reift. Das ist 2022 bei dem in Montréal ausgetragenen Draft-Event mit der Wahl von Juraj Slafkovsky gelungen. Auch wenn diese grosse Chance einen Nummer-Eins-Draftpick overall zu ziehen eigentlich ein Jahr zu früh passierte ist. Denn das Supertalent Connor Bedard (16) ist erst 2023 zum Draft zugelassen.

Was generell bei allen Rebuilding-Kandidaten konzeptionell deutlich wird: Man baut und entwickelt das Team mit den geeigneten Spielern für die Achse. Also gehören der Stammgoalie, das erste Verteidigerpaar und die Center jeweils zu den wichtigsten künftigen Schlüsselspielern. Was aber bei der ganzen Kaderverjüngung nicht vergessen werden darf: Die erfahrenen Leistungsträger, die als Mentoren und Vorbildern dienen, die Jungstars mitentwickeln und meist in den Playoffs zeigen, wie wichtig ihre Präsenz auf wie auch ausserhalb des Eisfeldes sind.

Authentisch bleiben bei der Restrukturierung

Der grosse Knackpunkt ist aber nicht allein auf der eh schon schwierigen Ebene der Kaderplanung zu suchen. In einigen NHL-Märkten – wie eben in Montréal – wird es ein Nervenspiel. Und dies trotz des aktuell im Jahre 2022 spürbaren Optimismus. Die Fans kaufen der Clubführung das Konzept ab, wie übrigens auch in Detroit, wo Steve Yzerman seinen Yzerplan durchzieht. Und dies hat definitiv damit zu tun, dass die Verantwortlichen in diesen Clubs nach dem Phoenix-Prinzip handeln oder dies zumindest so verkaufen.

Etwas anders ist es in Ottawa, wo man geduldig sein wird. Und besonders in Chicago muss man dem Paradigmenwechsel nun definitiv in die Augensehen und diesen akzeptieren. Die Ära Toews/Kane neigt sich dem Ende zu. Das Rebuilding der Blackhawks ab 2006 war extrem erfolgreich und nachhaltig. Und nun ist ein mindestens genauso drastischer Schritt nötig. Die meisten NHL-Fachleute sind sich einig: Die Detroit Red Wings und Montréal Canadiens sind in einer eindeutig besseren Ausgangslage. Auf GM Kyle Davidson wartet eine Herkules-Aufgabe, sollte sein Mannschaftskern komplett auseinanderbrechen. Und dieser Prozess hat schon begonnen und ein baldiges Szenario ohne Jonathan Toews und Patrick Kane erscheint möglich.

Joël Ch. Wuethrich publiziert wöchentlich Hintergrundberichte über die NHL in der führenden Deutschen Fachpublikation Eishockey News und hat ein ausgezeichnetes Beziehungsnetz in Nordamerika. Seit 1992 ist er Chefredaktor diverser namhafter Publikationen, unter anderem auch war er beim Slapshot sowie beim Top Hockey Chefredakteur und war zudem lange Jahre für den Spengler Cup strategisch in Marketing und PR sowie als Chefredaktor tätig. Joël Ch. Wuethrich leitet seit 1992 hauptberuflich eine crossmedial aufgestellte PR-Agentur und eine Player's Management Agentur (Sportagon), ist Crossmedia-Stratege und HF-Dozent mit Lehrauftrag für Kommunikation und Marketing. Er analysiert seit 30 Jahren als Autor/Chefredakteur in der Schweiz, Deutschland sowie in Kanada die NHL und beobachtet das Eishockeygeschehen weltweit intensiv. Der Familienvater (zwei Kinder) arbeitet in der Schweiz und in Montréal, wo ein grosser Teil seiner Verwandtschaft wohnt.

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Was passiert hinter den Kulissen der NHL und was steckt hinter den Geschichten, die uns bewegen? NHL Insider Joël Ch. Wuethrich öffnet für SHN sein NHL Netzwerk.